Mammutmarsch 2015: Keine Macht den Blasen!
„Sowas macht man auch nur ein Mal im Leben!“, seufzt es aus Isi ohne Ankündigung hervor. Ich brauche keine Zehntelsekunde und bejahe ihre Aussage.
Wie verrückt sind wir eigentlich? Was jetzt wohl unsere Freunde und Familien an diesem Sonntagmorgen machen? Langsam wach werden? Frühstücken? Oder duschen? Mit jedem von ihnen hätten wir in diesem Moment getauscht. Mit jedem!
Isi und ich haben am 09. Mai 2015 am Mammutmarsch teilgenommen und wollten von Berlin-Schöneweide nach Gusow laufen. Das Ziel des Laufs ist es 100 Kilometer in nur 24 Stunden zurückzulegen.
Wie man auf die Idee kommt beim Mammutmarsch 100 Kilometer am Stück zu laufen?
Vor genau zwei Jahren habe ich schon mal etwas ähnliches probiert. Damals bin ich an einem sonnigen Pfingstsamstag aufgestanden, habe meine Tasche gepackt und bin in Richtung Frankfurt/Oder losgelaufen. Da ich mich nicht unbedingt gut auf den Trip vorbereitet hatte, habe ich damals gleich drei elementare Fehler gemacht und bin kläglich nach der Hälfte der Strecke gescheitert.
Erstens: Mein Rucksack war mit 22 Kilogramm Gepäck definitiv zu schwer. 6l Wasser, etwas Technikkram für das Wochenende, eine Weinflasche als Geburtstagsgeschenk und jede Menge anderen Plunder hatte ich dabei. Unglaublich. In 5 Wochen Afrika hatte ich vergleichsweise in diesem Jahr nur 13 Kilogramm Gepäck.
Zweitens: Ich hatte nur einfache Laufschuhe samt Einlegesohlen an, die mir auf etwa 40 Kilometern schon faustgroße Blasen rubbelten.
Drittens: Ich hatte nicht genug Verpflegung eingeplant. Auf 6 Liter Wasser trafen nur zwei belegte Vollkornbrötchen. Und für eine etwa 80 Kilometer lange Wanderung war das zu wenig. Was ich damals niemandem erzählte: Aufgrund der fehlenden Nährstoffe und der Anstrengung wurde ich damals sogar ohnmächtig. Uuups. Aus diesen Fehlern wollte ich lernen.
Ein neuer Versuch stand für mich außer Frage. Als ich dann vom Mammutmarsch, also einer organisierten Laufveranstaltung mit Versorgungspunkten und Abholservice hörte, war für mich alles geritzt. Ich würde es wieder versuchen! Glücklicherweise war Isi mit dabei, so dass ich mich nicht alleine in das Abenteuer stürzen musste.
Bloß keine Blasen bekommen!
Ohne weitere Vorbereitung und mit dem guten Gefühl im letzten Jahr zwei Marathons erfolgreich absolviert zu haben, startete ich gegen 17 Uhr mit Isi in Berlin-Schöneweide unseren Mammutmarsch.
Für ausreichend Verpflegung hatte ich gesorgt. Durch die Versorgungspunkte auf Kilometer 27, 54, 69 und 80 wurde außerdem leichtes Gepäck ermöglicht und wir waren nicht genötigt Speisen und Getränke für einen ganzen Tag mit uns rumzuschleppen.
Mein Mammutmarsch-Verpflegungspaket für 24 Stunden und 100 Kilometer.
Nur meine Füße bereiteten mir Sorgen. Vor weniger als einer Woche hatte ich mir in London ein Paar neue Alltagsschuhe gekauft und mir direkt eine Blase am Hacken gelaufen. Die langsam heilende Blase störte noch etwas in den neuen Wanderschuhen.
Nach fünfzehn Kilometern legten wir die erste kurze Pause ein. Ich checkte sorgsam meine Füße, setzte ein neues Pflaster auf eine eventuelle Druckstelle und wechselte die Socken. Ich hatte einfach zu große Sorge mir wieder riesige Blasen zu laufen und abbrechen zu müssen.
Die ersten 27 Kilometer vergingen ziemlich schnell. Wir schlenderten aus der Hauptstadt und hatten die Abendsonne wärmend im Rücken. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde mir erst so richtig bewusst, dass wir die ganze Nacht durchlaufen werden und in auf keinen Fall die Gelegenheit bekommen werden zu schlafen.
Im Gleichschritt beim Mammutmarsch durch die Brandenburger Nacht
Wie eine mächtige Ameisenstraße zogen die über 800 Teilnehmer des Mammutmarschs mit ihren Stirnlampen durch den dunklen Wald. Lediglich ein übernatürlich großer Mond spendete uns etwas Licht. Es war ein toller Anblick, wenn ich mich umdrehte und nichts weiter sah als die wankenden Stirnlampen. Zwischen der Feuchtigkeit der Nacht und dem Hauch der Teilnehmer schwebte eine wahnsinnig tolle Atmosphäre. Viele waren guter Stimmung, plauderten oder scherzten. Wir waren alle verrückt genug solch eine Challenge anzunehmen. Wir hatten alle ein Ziel. Wir kämpften alle für unser Ziel. Jeder für sich, aber doch irgendwie zusammen.
Erst nach Kilometer 40 kippte die Stimmung. Humpelnde Silhouetten und fluchende Verwundete prägten den Weg. Viele nutzen die Ausstiegspunkte am Rande der Strecke und warteten auf den Bus der Gescheiterten.
Jedes Mal, wenn Isi und ich jemanden überholten oder wir an einer pausierenden Gruppe vorbeizogen, steigerte sich unsere Motivation und das Ziel rückte immer mehr in greifbare Nähe.
Doch dann sollten die Höllenkilometer vor dem zweiten Versorgungspunkt folgen. Die Sonne ging langsam auf und wir waren die ganze Nacht unterwegs gewesen. Auf einem kleinen Spielplatz legten wir eine Pinkelpause ein. Ich setze mich auf die Schaukel und begann mit den Füßen zu wippen. Aus dem langsamen hin und her schwingen wurde ein imposantes Schaukelvergnügen. Immer höher, immer schneller. Das befreite meinen Kopf. Doch beim Absteigen merkte ich es wieder. Ich war müde, wollte schlafen, hatte Hunger, wollte was tolles essen, fühlte mich dreckig, wollte mich duschen und dachte an schöne Dinge: Also an alles was nicht unbedingt zwischen Berlin-Schöneweide und Gusow lag. Ich hatte ein Tief und war demotiviert.
Und dann lief es, wie es eben laufen muss bei so einer Challenge. Wir haben die Zähne zusammen gebissen und sind weiter. Immer weiter. Schritt um Schritt dem nächsten Versorgungspunkt entgegen. Die Beine wurden immer schwerer und nach jeder noch so kleinen Pause brauchten wir wieder ein paar Schritte um in Schwung zu kommen. Noch 4 Kilometer, noch 4 Kilometer, endlich, noch 3 Kilometer bis zum nächsten Versorgungspunkt. Immer wieder schaute ich auf den GPS-Track und es war als bewegten wir uns kaum vorwärts. Doch dann erreichten wir den Sportplatz an dem wir uns ausruhen konnten.
Den Mammutmarsch schafft du nur mit der Kraft des Willens
Wir waren total müde und einfach fix und fertig. Aber irgendwas in uns sagte: Macht weiter. Also wechselten wir die Socken, versorgten unsere Mägen und machten uns wieder in Bewegung. An diesem frühen Sonntagmorgen sollte der schönste Streckenabschnitt folgen. Vorbei an riesigen Rapsfeldern, durch Buchenwälder und über weite Wiesen führte unser Pfad. Unglaublich wie schön wir es direkt vor der Haustür der Hauptstadt haben.
Der Weg soll das Ziel sein? Nichts anderes ging mir mehr durch den Kopf. Der Weg das Ziel? Pah. Das Ziel ist das Ziel! 100 Kilometer sind mein Ziel! Doch so sehr ich auf den vorherigen Kilometern gehofft hatte das Ziel noch zu erreichen, desto unwahrscheinlicher wurde es jetzt. Wir waren übermüdet und schwach. Unsere Füße waren schwer und wollten uns nicht mehr tragen. Isi bekam schreckliche Magenkrämpfe. Und irgendwann ließ ich mich einfach fallen. Meine Hüfte knallte gegen einen Ast. Doch das war mir egal. Ich wollte nur noch liegen. Also begutachtete ich die Wolken, die emsig tanzenden Baumspitzen der Kiefern und machte die Augen zu. Es wirkte wie eine Erlösung. Einfach nur noch schlafen.
Isi weckte mich unsanft aus dem Schlaf, indem sie einfach nur fragte, ob wir weitergehen. Nein! Verflixt, nein! Ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr. Doch die 70 Kilometer wollten wir noch voll machen. Mit neuer Motivation stand ich auf und wir trotteten weiter durch den Wald. Mal nebeneinander, mal voreinander, mal schweigend, mal fluchend, mal panisch lachend.
Auf Kilometer 65 stoppte an der Straße ein Abholfahrzeug der Organisatoren. Isi konnte nicht anders und stieg ein. Zu groß waren ihre Magenkrämpfe. Ich zog weiter und wollte die letzten Kilometer alleine zurücklegen. Kurz nachdem ich Isi verabschiedet hatte, als würden wir uns nie wieder sehen, rief sie mich an. Sie würde in Buckow auf mich warten und im Anschluss würde man uns zum Bahnhof fahren. Die Erlösung war nahe. Also verstaute ich mein Handy im Rucksack und begann zu joggen. Ja, so verrückt es klingt. Ich begann allen ernstes zu rennen. Ich wollte noch mal alles geben und schnell zum Ende kommen.
Wenige Minuten nach Isis Ankunft war ich auch an der dritten Versorungsstation angekommen. Ich warf das Handtuch und setzte mich ins Auto. Witziger Weise hatte ich kurz zuvor eine Rehabilitationsklinik passiert. Wortlos fuhren wir zum Bahnhof, mit der Bahn nach Berlin und jeder in sein Zuhause.
Nach 17 Stunden Schlaf stand ich auf, packte meine Tasche und ging zur Vorlesung. Isi schrieb mir eine Nachricht. Ihr ging es wieder gut. Auf jeden Fall werden wir es im Jahr 2016 wieder beim Mammutmarsch probieren. Denn sowas macht man nicht nur ein Mal im Leben! Sowas macht man bis man es schafft. Und dann wieder. Und wieder.
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Weiterführende Links zum Mammutmarsch:
Wer nach ein paar Gründen sucht beim Mammutmarsch mitzuzlaufen, sollte sich diese 5 Gründe mal ansehen.
Und hier schlussendlich ein Bericht von Fabian, der es unter Todesschreien geschafft hat und schlussendlich das Ziel des Mammutmarschs erreichte.
100 Kilometer. 24 Stunden. Zu Fuß. Aber warum? in DIE WELT
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Danke für die Einladung zum Mammutmarsch, Philipp! Zwischendurch nahm ich dir das echt übel, aber inzwischen würde ich immer wieder teilnehmen.
Meine eigene Meinung wurde durch die Einladung nicht beeinflusst.
Ida
27. Mai 2015, 17:52Wow… 70km zu laufen muss man erst einmal schaffen. Finde ich klasse euer Vorhaben. Könnt ihr mir noch verraten, wie eure Idee geboren wurde.
VG
lionedirus32@web.de
28. Mai 2015, 9:19Wahnsinn wie kann man nur so weit laufen. Für mich unvorstellbar. Mein Respekt an euch und euren Willen.
Mel (worldwhisperer)
1. August 2015, 10:59Wahnsinn, dass du trotz solcher Schmerzen so ein Durchhaltevermögen gezeigt hast.
Ich glaub ich wär nach spätestens 40km zusammen gebrochen.
LG
Mel
nida78
8. September 2015, 6:51Schöner Beitrag! Ich hab’s auch bis km 69 geschafft und musste dann mit einem steifen Knie aufgeben. Hier mein Bericht: http://n1da.net/2015/05/14/mammutmarsch-2015-mein-rueckblick/
Bis zum nächsten Jahr 🙂
Steven
8. September 2015, 6:55Jaaaa, bis zum nächsten Jahr. 🙂
Marcus
8. September 2015, 11:38Toller Beitrag und spitze, dass ihr im nächsten Jahr wieder antreten wollt. Ich habe meine beiden Marschpartner bei 40 und 54 km zurücklassen müssen und es allein bis ins Ziel geschafft – nie wieder … nie wieder laufe ich den Rest des Weges ganz allein.
Wir sehen uns im kommenden Jahr!
Steven
10. September 2015, 16:42Auf jeden Fall sehen wir uns im nächsten Jahr. Notfalls laufe ich mit dir bis ins Ziel. 🙂
Marcus
11. September 2015, 5:32Ich nehm Dich beim Wort 😉 Ich bin im kommenden Jahr u.a mit einem erfahrenen Nijmegen-Marschpartner unterwegs – das wird schon klappen. Freue mich schon auf Deinen kommenden Erfahrungsbericht!
Mandy
30. Oktober 2015, 20:15Hallo. Nächstes Jahr bin auch dabei. Hut ab, dass du 70 km geschafft hast. Eine Frage hab ich noch. Was für Socken hattet ihr den an? Baumwolle oder eher solche Laufsocken für Jogger ohne Nähte?
LG Mandy
Steven
5. November 2015, 11:09Genau, ich hatte Laufsocken an; hatte auch mehrere Paare dabei, um regelmäßig zu wechseln. Auf jeden Fall sollten deine Schuhe gut eingelaufen sein und nirgends drücken. Dann hast du gute Karten. 🙂
Maddie
22. März 2016, 19:45Wow, ihr seid ja verrückt! Hammerhartes Ding, aber klasse geschrieben. 🙂
Bin schon gespannt, dich beim #RLPerleben kennenzulernen – wir sind sogar voll ein Alter, wie cool! 🙂
Liebe Grüße aus dem Harz,
Maddie
Cathy
3. August 2017, 13:45Schöner Beitrag. Bestärkt sehr die Vorfreude. 🙂
Was genau hast du denn da als Verpflegung mitgenommen?
Also was ist das in den Beuteln, den Gläsern und Konserven? Den Rest erkennt man ja sehr gut. Und damit kamst du gut zurecht? Alles aufgebraucht?
Liebe Grüße, Cathy
Steven
4. August 2017, 23:47In den Beuteln waren selbstgekochte Vollkornnudel- und Reisgerichte. Das war aber alles viel zu viel.
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