Nächstenliebe und Helfersyndrom.

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16 Dez

Nächstenliebe und Helfersyndrom.

16. Dezember 2014

von JoSpeedmän
Ich wurde evangelisch erzogen. Meine Eltern arbeiteten beide in unserer Kirche in Berlin Hohenschönhausen. Neben meinem unerschütterlichen Glauben an Gott wurden mir aber natürlich auch die christlichen Werte näher gebracht. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ergo: Altruismus.
Meine Eltern lebten es mir vor. Meine Mutter arbeitete im Jugendclub der Gemeinde und kümmerte sich um „sozial schwache“ Kinder und Jugendliche (ich wusste sehr früh, was „sozial schwach“ bedeutet oder glaubte das zumindest) und mein Vater arbeitete in einem Begegnungsort für Alkoholiker in der Kirche. Beide studierten Sozialpädagogik.
Somit wurde ich von Nächstenliebe und Helfersyndromen überschwemmt. Und ich adaptierte diese Verhaltensweisen, bis der Arzt kam; angefangen bei meinem Bezirk. Wer aus Berlin kommt, dürfte wissen wie es in Hohenschönhausen aussieht: nicht schön. Hochhaus an Hochhaus, in den 90ern teilweise noch nicht saniert. Dreck auf den Straßen.
Oh-Berlin.com_flickr
Ich zog als Kind allein mit einer Plastiktüte los und sammelte den Müll aus den Sträuchern vor unserem Haus. Ich habe keine Ahnung mehr, warum ich das tat. An einem Tag habe ich eine Taube gerettet, die an einem Strauch festhing, weil sich ein Band um ihren Fuß gewickelt hatte. Ich schnitt es durch und sie flog weg. Ich bezweifle stark, dass ich das heute noch tun würde. Ich hätte keine Zeit oder würde mich ekeln oder würde die Taube gar nicht bemerken. Genauso wie ich es überhaupt nicht einsehe den Dreck auf den Straßen zu entfernen. Dafür bin ich nicht verantwortlich, dafür gibt es schließlich Straßenreiniger. Aber mich aufregen über den Dreck, das kann ich gut.
Doch mein Helfersyndrom hörte nicht bei Sträuchern und Tieren auf. In der Grundschule versuchte ich ständig allen zu helfen. Ich bot jedem an zu mir zu kommen, wenn sie oder er Probleme hatte. Schnell hatte ich meinen Spitznamen weg: Mutter Theresa.
 
jo_speedmaen_altes_ich

die kleine Jo

 
Abgesehen von der leicht übertriebenen Hilfsbereitschaft, die ich an den Tag legte und die man sicherlich auch als bedenklich bezeichnen könnte, frage ich mich heute manchmal wo sie denn geblieben ist, diese Selbstlosigkeit. Ich habe oft das Gefühl, dass uns diese Gesellschaft zu egoistischeren Menschen macht. Mich eingeschlossen. Deswegen habe ich mir angewöhnt mich von Zeit zu Zeit an mein kleines Ich zu erinnern und mir an ihr ein Beispiel zu nehmen. Denn ich war voll von Gutem. Auf gewisse Weise, war ich ein besserer Mensch als heute. Und wie toll ist das denn: wenn eins deiner Vorbilder dein eigenen „altes“ Ich ist?! Auch wenn sie ziemlich nervig und besserwisserisch war, bin ich der kleinen Jo doch auch sehr dankbar für alles, was sie mir heute noch beibringt.
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Dieser Gastbeitrag von Johanna ist ein Teil des Funkloch Adventskalenders 2015, bei dem Reisende über “Gutes tun” berichten.
Eine Übersicht aller Adventskalender-Beiträge findet ihr hier.
jospeedmaenJohanna ist im Vergleich zu denjenigen, die hier bisher zu Wort kamen, keine klassische Bloggerin. Sie schreibt zwar viel, macht das aber eher hier und dort oder in ihrem Tumblr. Die Studentin der Universität der Künste, verbringt gerade ein Semester in Valencia und ist eine meiner besten Freundinnen. Wenn sie mal groß ist, dann wird sie sicher wieder so wie die kleine Jo. Da bin ich mir sicher.

Kommentar
  • Lisa
    18. Dezember 2014, 15:30

    Hey=)
    Ich finde die Sache mit dem Müll und der Taube wirklich toll! Ich glaube auch, wenn sich alle Leute nur ein kleines bisschen weniger um sich selbst und dafür ein kleines bisschen mehr um ihre Umgebung kümmern würden, wäre die Welt sicher ein besserer Ort.
    Ich zumindest hebe immer Plastikmüll auf, wenn ich ihn durch die Gegend fliegen sehe und bilde mir ein, damit ein paar arme Fische, Schildkröten oder Vögel zu retten;)
    Die Welt braucht meiner Meinung nach mehr Menschen mit Helfersyndrom!
    Viele Grüße, Lisa

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Steven Hille

Steven ist der Autor des nachhaltigen Reiseblogs Funkloch. Irgendwann dachte er sich, dass er nur noch Projekte realisieren sollte, die einen guten Nutzen haben. Aus dieser Idee heraus sammelte er Spenden für ein Tigerbaby, unterstützte ein nationales Bienenprojekt, baute einen Brunnen in Uganda und gründete mit Freunden die NGO WeWater, die sich für sauberes Trinkwasser einsetzt.

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