Das Leben leben.

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1 Mrz

Das Leben leben.

1. März 2014

Er zieht mit seinem kleinen Rollkoffer hetzend an mir vorbei, schnaubt einmal tief durch die Nase aus, blickt hektisch auf die Uhr und beschleunigt seine Schritte. Nach weiteren drei großen Schritten bleibt er stehen, sieht sich verwundert um und rennt in die Richtung, aus die er gekommen war. Neben ihm, vor ihm, an den Seiten und überall um uns herum befinden sich weitere Vertreter seiner Spezies.
Eine Spezies, die mit dem Menschen nicht mehr viel gemein hat. Sie sind ausgepowert, hatten in der letzten Nacht zu wenig Schlaf und holen diesen über literweise Kaffee zurück. Sie hetzen von Termin zu Termin und leben ein Leben in Panik und Termindruck. Dabei ist das Mobiltelefon immer am Ohr, in der Hand oder vor der Nase — ganz egal, ob man sich gerade in einer Unterhaltung, im Restaurant oder im Meeting befindet. Ja, das ist Generation B: Generation Burnout, Generation Business, Generation Maximalbelastung.
Generation „Bescheuert“, wohl eher, so würde ich meinen. Und das, obwohl ich gerade selbst auf dem besten Weg in diese Richtung bin. Doch wenn ich mal wieder einen ruhigen Abend genieße, dann denke ich darüber nach, warum wir uns das antun. Was bringt uns der Stress? Was bringt es uns, wenn wir im Job und überall sonst 130 % geben. Auf lange Sicht auf jeden Fall nichts. Auch das liebe Geld wird dann nichts mehr nützen. Was bringt es uns, wenn wir unsere Lebenszeit dafür verballern und sie nicht sinnvoll nutzen können. Wenn wir das Leben nicht genießen und unser Leben nicht richtig ausleben?
Nichts, denn dann verpassen wir all die tollen Momente, die uns Mutter Erde noch bereithält. Wir treffen uns weniger mit Freunden, wir sehen unsere Familien nur selten und verlieren unsere dankbare Sicht auf die Dinge dieser Welt.
 

„Wir dürfen niemals vergessen: Unsere vornehmste Aufgabe ist es zu leben.“
Michel de Montaigne (1533–92)

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Doch wann beginnen wir mit dem Leben?

Einige sind der Meinung, dass sie das machen, wenn sie alt sind. Dann haben sie sich ein finanzielles Polster angelegt und haben Zeit. Doch was geschieht, wenn die Gesundheit oder andere Umstände das nicht mehr zulassen?
Als ich vor Jahren meinen Zivildienst absolvierte, betreute ich pro Woche etwa zehn alte Menschen. Unter ihnen waren welche mit viel Geld, welche mit viel Lebenserfahrung und einige, die extrem viel aus ihrem Leben zu erzählen hatten. Der Reichste von ihnen lebte in einem großen Haus mit riesigem Garten, hatte einen Hund, jede Menge tolle und antike Bücher und konnte die Pflegeleistungen aus privater Kasse bezahlen. Jeden Tag kam außerdem zur Mittagszeit eine Dame, die für ihn kochte sowie jemand, der dreimal täglich mit dem Hund Gassi ging. Auch diese bezahlte er privat. Trotzdem war er einsam. Er hatte keine Frau, keine Familie, keine Freunde und hatte nichts aus seinem Leben zu erzählen. Nur wenige schöne Erinnerungen teilte er mit mir und beschäftigte sich sonst den ganzen Tag mit unzufriedenem Gefluche über Politik und Wirtschaft.

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Die Glücklichste von allen war das genaue Gegenteil des alten Herren. Frau Klein war in ihrem Leben viel gereist, hatte in diversen Ländern gelebt, pflegte Freundschaften auf drei Kontinenten dieser Erde und hatte trotzdem Zeit gehabt, eine Familie zu gründen. In ihrem Freundeskreis war sie ein munterer und gern gesehener Gast. Manchmal war ihre Tochter zu Besuch, an anderen Tagen auch gerne mal die halbe Nachbarschaft. Hier traf sie nach über 40 Jahren alte Bekannte wieder, die sie vor ihren Reisen zurück gelassen hatte. Frau Klein ist ein echter Lebemensch und lebt von ihrer bescheidenen Rente, die nur minimal höher als mein Zivildienstsold war. Ich war gerne bei ihr. Sie zeigte mir Skulpturen aus Indien, Postkarten aus dem Iran, Vasen aus der Türkei oder kochte für uns aus den einfachsten Zutaten schmackhafte Gerichte. Sie konnte nicht mehr gut laufen und hatte Probleme mit dem Kreuz. Und trotzdem war sie glücklich. Aus reinem Herzen glücklich.
Das beeindruckte mich so sehr, dass wir auch lange nach dem Zivildienst noch Zeit miteinander verbrachten. Ich schätze ihre Sicht auf die Dinge und die Konzentration auf das Wesentliche im Leben: Glückseligkeit.
Und immer wenn ich nun einen durch die Gegend hetzenden Anzugträger mit tiefschwarzen Augenringen und zittrigen Händen sehe, muss ich wieder an sie denken. Denn sie hatte alles richtig gemacht in ihrem Leben und ist mir noch heute ein Vorbild.
 
Passend dazu, meine Lieblingsreisevideo:

MOVE from Rick Mereki on Vimeo.

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Steven Hille

Steven ist der Autor des nachhaltigen Reiseblogs Funkloch. Irgendwann dachte er sich, dass er nur noch Projekte realisieren sollte, die einen guten Nutzen haben. Aus dieser Idee heraus sammelte er Spenden für ein Tigerbaby, unterstützte ein nationales Bienenprojekt, baute einen Brunnen in Uganda und gründete mit Freunden die NGO WeWater, die sich für sauberes Trinkwasser einsetzt.

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