Gastfreundschaft auf einem Bauernhof in Thüringen
von Sarah Lorenz
Zack – mein Arm wird nach hinten gerissen und ich muss einen Ausfallschritt machen, um nicht umzufallen. Ich reibe mir die schmerzende Hand und drehe mich um. Egon, mein Packpony, steht vor mir und ist mit dem Kopf im Gras versunken.
Verdient hat er diese Pause eigentlich und so lasse ich ihn weiter essen. Auch ich habe Hunger, doch in meinem Rucksack befinden sich nur noch Nudeln und Reis. Roh nicht wirklich genießbar und bevor ich etwas koche, möchte ich eine Unterkunft für die Nacht gefunden haben. Das stellt sich als gar nicht so einfach heraus.
Gemeinsam mit meinem Mann und unserem Hund Sturmi sind Egon und ich vor zwei Tagen aufgebrochen, um Thüringen zu erwandern. Es ist unsere erste große Wanderung und wir sind noch unerfahren. Was müssen wir für das Pony alles mitnehmen? Wo können wir schlafen? In meiner Vorstellung habe ich uns entspannt jeden späten Nachmittag an einem Bauernhof klingeln und dann die Nacht dort auf den Wiesen verbringen sehen. Doch natürlich ist die Realität selten so einfach.
Die letzte Nacht haben wir auf einer Verkehrsinsel geschlafen. Meinen ersten Inselurlaub mit Pferd hatte ich mir ehrlich gesagt auch anders vorgestellt. Ständig fuhren Autos an uns vorbei, Egon verhakte sich mit seinem Hinterhuf im Strick und zu allem Überfluss läutete die Kirchturmuhr auch noch jede Viertelstunde. An Schlaf war kaum zu denken.
Und nun sind wir schon wieder auf der Suche nach einer Unterkunft. Meine Stimmung neigt sich dem Tiefpunkt zu, Müdigkeit und Hunger sind keine gute Kombination bei mir, und bislang hatten wir kein Glück. Einfach mit Zelt und Pony auf einer Wiese zu campen trauen wir uns nicht. Niemand, den wir angesprochen haben, konnte uns weiterhelfen. Keiner kannte einen Garten, den Besitzer von Wiesen oder sonst eine Möglichkeit.
Erschöpft nehme ich Egons Strick neu in die Hand, ziehe seinen Kopf aus dem Gras und laufe weiter. Nach wenigen Schritten müssen wir jedoch erneut anhalten. Unser Hund hat Blasen an den Pfoten bekommen und muss nun von Timo über den Schotter getragen werden. Es sind 30 Grad und ich schwitze aus allen Poren. Zu meinem eigenen Stress kommt die Besorgnis um die Tiere. Haben wir genug Wasser dabei? Ist es für Egon zu warm mit Sattel und Packtaschen?
Kurze Zeit später erreichen wir das nächste Dorf, in dem wir direkt hinterm Ortseingang von einem Mann angesprochen werden. Dieser fragt, ob seine Enkelin das Pony streicheln darf. Eigentlich bin ich genervt. Doch der Mann ist nett und er kann schließlich nichts für meine Situation. Also willige ich ein. Wenig später sind wir von der gesamten Familie umzingelt. Alle streicheln das flauschige Ponyfell und wir kommen ins Gespräch. Es fällt die Frage, wo wir die Nacht verbringen würden und ich wittere meine Chance. Ich setze einen treuherzigen Blick auf und erwähne, dass wir vom Nachbarort abgewiesen wurden und deswegen noch nichts gefunden haben. Sofort kommt die ganze Familie in Schwung. Die Leute im Nachbarort seien sowieso nicht so nett wie hier und da könne man doch etwas machen. Wir werden zu einer Wiese hinter einem Garten geleitet mit der Anweisung hier kurz zu warten. Nur zwei Minuten später steht eine neue Familie vor uns. Ihnen gehört der Garten und natürlich dürfen wir davor übernachten. Sie hätten uns auch in Ihrem eingezäunten Garten nächtigen lassen, aber wir wissen nicht, wie Egon auf die dort befindlichen Gänse reagiert. Um nichts zu riskieren, bauen wir somit dankend unser Zelt auf dem Wiesenstück davor auf. Egon haben wir an einem Baum angebunden, sodass er grasen kann. Das ist zwar nicht ideal, aber eine andere Möglichkeit fällt uns gerade nicht ein.
Als unser Zelt endlich steht, lassen wir uns erschöpft auf den Boden fallen. Timo zieht seine Schuhe und Socken aus und ich bin gleichzeitig fasziniert und angeekelt. So krasse Blasen habe ich noch nie gesehen.
Auch meine Füße schmerzen und generell fühle ich mich ziemlich ausgelaugt. In diesem Moment kommt die Gartenfamilie erneut um die Ecke gebogen, dieses Mal mit zwei Kaffeebechern in den Händen. Wir genießen diesen Luxus, den wir sonst auf unseren Wanderungen nicht haben, während Sturmi begeistert mit der jungen Hündin der Familie spielt.
Anschließend stelle ich der Familie Egon vor, der schon ein beachtliches Gebiet abgegrast hat. Ich bin froh, dass er einigermaßen sicher steht und ich ihn im Auge habe. Doch das nette Ehepaar ist noch nicht zufrieden. Es dauert keine fünf Minuten da bauen sie einen Zaun für Egon auf. Einen richtigen Zaun, so dass er ganz frei laufen kann. Ich möchte helfen, doch auch das wollen sie nicht. Wir sollen einfach ruhig da sitzen und die Landschaft genießen, während sie die Streben in die Böden stecken und Schnüre ziehen.
Wir nutzen die Zeit, um Wasser für unsere Nudeln zum Kochen zu bringen. Schon steht der nächste Dorfbewohner vor uns und streckt uns eine Gaskartusche entgegen. Er hat gesehen, dass wir kochen und von Gas kann man schließlich nie genug haben. Wir lehnen dankbar ab – unsere Flasche reicht locker noch bis zum Ende der Wanderung.
So klingt unser Tag absolut entspannt aus und schon früh liegen wir im Zelt, versorgen unsere Füße und fallen dann in den Schlaf. Später wache ich auf und schrecke hoch. Irgendetwas ist anders, nur was? Dann merke ich es: Es ist hell. Ich habe tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen. Ohne den Zaun für Egon und unsere genialen Versorgung wäre das undenkbar gewesen.
Am Morgen packen wir alles zusammen und beginnen den Zaun wieder abzubauen. Da kommt der Gartenbesitzer erneut zu uns, um zu schauen, ob wir noch etwas brauchen. Außerdem sollen wir den Zaun einfach stehen lassen, er kümmere sich später um alles.
So laufen wir erholt los. Kurz vor dem Wald drehe ich mich noch einmal um und bedanke mich innerlich bei diesem kleinen Dorf und all seinen Bewohnern, die uns so nett empfangen haben. Sie haben uns Mut und Unterstützung gegeben, als wir sie am meisten gebracht haben und damit unsere Wanderung so viel besser und unvergesslicher gemacht.
Nachtrag: Diese Wanderung ist inzwischen 1,5 Jahre her und natürlich haben wir inzwischen viele Erfahrungen gemacht und unser Equipment verbessert. Doch immer, wenn ich heute auf der Autobahn an diesem kleinen Ort vorbeifahre, denke ich an diese besondere Nacht zurück, die den Anfang unserer vielen Wanderungen darstellte und in der ich so viel Gutes erfahren habe.
_
Dieser Gastbeitrag ist ein Teil des Funkloch Adventskalenders 2015 bei dem Reisende über “Gutes tun” berichten.
Eine Übersicht aller Adventskalender-Beiträge findet ihr hier.
Am Anfang diesen Jahres hatte ich das Glück Sarah persönlich kennenzulernen. Die aufgeschlossene und super sympathische Thüringerin war damals zu Besuch in der Hauptstadt. Wir lernten uns auf einem Treffen für Digitale Nomaden kennen. Aufgrund der Entfernung und einer fehlenden Unterkunftsmöglichkeit hatte sie ihr Packpony Egon daheim in Thüringen gelassen. Auf ihrem Blog verwandert.de schreibt Sarah über das Wandern in Deutschland mit Mann, Hund und eben dem Star der Crew – Pony Egon.
No Comments